Eindrücke aus meiner Indien-Reise (1)
13.01.2023
Jetzt bin ich schon einen ganzen Monat in Indien und kann es immer noch nicht fassen. Kann dieses Land nicht fassen, die Menschen, die Riten, der so ganz andere Alltag. Noch immer bin ich in einem Zustand des fast ungefilterten Aufsaugens. Hier strömen die Eindrücke mehr oder weniger ununterbrochen auf mich ein und ich habe keine andere Wahl, als später nach und nach zu sortieren. Indien wird zuerst körperlich erfahren, sagt man, der Verstand braucht dafür etwas länger. Aber ich mache mal einen ersten Versuch…
Das Alltagsleben für reich und arm
Begonnen habe ich diese Reise zu Besuch bei Sohn und Schwiegertochter in New Delhi – noch etwas behütet in ihrer erstaunlich ruhigen Wohnung – das ist hier Luxus pur. Aber kaum geht man wenige Meter hinaus, ist man mitten im lauten, dichten, sehr bunten, aber auch dreckigen Alltagsleben in dieser Gigantenstadt mit ihren 25 Millionen Einwohnern. Die Stadt hat einen ganz eigenartigen verbrannten Geruch, vor allem im Winter, wenn hier alles unter einer dicken Smogdecke liegt. Kaum eine Stadt in der Welt leidet so sehr unter Umweltverschmutzung wie Delhi.
Morgens wird man von den Rufen der Händler geweckt, die mit ihren Holzkarren oder Fahrrädern durch die Straßen ziehen. Dort bekommt man alles, was man an Gemüse, Obst, Krimskrams aller Art brauchen sollte. Mein Lieblingshändler ruft „Saabjee!“. Er kommt zweimal am Tag vorbei und bei ihm kaufe ich fast all unser Gemüse ein. Mittlerweile verlangt er keine übertriebenen Preise von mir als Ausländerin – damit bin ich wohl für ihn als Bewohnerin akzeptiert.
Auch eine transportable Personenwaage und eine Reiseschreibmaschine wird von durchradelnden Händlern angeboten – sollte man gerade solche Dienste benötigen. Gelegentlich wird auch ein tanzender Affe zur Unterhaltung für die Kinder angeboten.
Die Straße wird täglich mit einfachsten Mitteln gekehrt.
Vormittags ist dieses Mittelklasse-Viertel geprägt von den vielen Haushaltshilfen, denn gehört es zum guten Ton, wenigstens eine (oder gar mehrere) kochende und putzende Hilfe im Haus zu haben, wenn man es sich irgendwie leisten kann. Teilweise ergibt es durchaus einen praktischen Sinn. Durch die große Luftverschmutzung (oft mehr als das Zehnfache des zugelassenen Maximalwerts in Europa) muss die Wohnung mehrfach wöchentlich durchgeputzt werden, denn der hartnäckige schwarze Staub legt sich überall. Einkäufe sind kompliziert, da es im Normalfall nicht die bei uns üblichen Supermärkte gibt. Man kauft Gemüse, Gewürze, Haushaltswaren, Brot, Fleisch, Reis etc. jeweils in unterschiedlichen Geschäften, die teilweise weit auseinanderliegen. Auch das indische Kochen ist enorm zeitaufwendig und kaum zu schaffen, wenn man voll berufstätig ist. Schon zum Frühstück werden warme Gerichte frisch zubereitet. Und will man Masala-Chai korrekt kochen, sind viele kleine Schritte und einiges an Zeit nötig. Dafür schmeckt dieser Tee aber auch gigantisch gut und ist Welten entfernt von unseren Teebeuteln mit Chai-Geschmack.
Überall wird Service großgeschrieben, viele Geschäfte liefern ins Haus. Es gibt Taxis und Rikshas für wenig Geld. Handwerker kommen auf Wunsch innerhalb von Stunden (ein Traum für Europäer…). Der Bügelmann, der mit einem kohlegewärmten Bügeleisen an der Ecke steht, bringt die frisch gebügelte Wäsche noch am selben Tag nach Hause.
Die andere Seite davon sind die vielen Menschen, die kaum etwas verdienen. Der Schuster, der um die Ecke unter seiner improvisierten Plane auf dem Bürgersteig sitzt, nimmt schätzungsweise nicht mehr als ein paar Euro am Tag ein und ernährt damit wahrscheinlich eine ganze Familie. Wo diese dann lebt, mag man sich lieber nicht vorstellen. Genug Menschen haben hier ihr Zuhause unter einer Brücke, in einem Verschlag am Bürgersteig, in umgebauten Garagen…
Die Armut lässt einem natürlich nicht unberührt. So manche Augen werde ich nie vergessen. Auch nicht der große Kontrast zu den wohlhabenden Menschen. Und meine eigene Hilflosigkeit, denn so viel kann ich gar nicht geben, wie es nötig wäre.
Rundreise in Tamil Nadu
Nach einer kurzen Zeit des Ankommens startete auch schon unsere gemeinsame zweieinhalb Wochen lange Rundreise in Tamil Nadu im Süd-Indien, wo wir die Südspitze sozusagen durchquert haben - von Coimbatore im Westen bis Pundicherry an der bengalischen Bucht im Osten. Sehr unterstützt von unserem Sohn, der schon viel Indien-Erfahrung hat und natürlich unserer Schwiegertochter, die Inderin ist und uns sprachlich und verhandlungstechnisch immer wieder rettet. Und so manche Türe öffnet, denn mit ihr sind wir nicht immer nur fremde Ausländer. Sprachlich gerät aber auch sie gelegentlich in Schwierigkeiten, denn hier im Süden spricht man im besten Fall einige Brocken Hindi. Die Hauptsprache ist Tamil und sogar die Schriftzeichen sind anders als in Hindi. Kaum zu fassen, aber Indien hat 22 offizielle Sprachen und jene Menge kleinere dazu. Die Verständigung untereinander ist also nicht immer leicht, und die englische Sprache der ehemaligen Kolonialherren sprechen nur Menschen mit einem gewissen Bildungsgrad.
Indien hat ein großes Müllproblem. Die Straßen und Grünstreifen sind voll davon. Die Müllabfuhr funktioniert nur teilweise und das Bewusstsein für ein sauberes gemeinsames Umfeld fehlt oft. Im Privaten wird allerdings sehr darauf geachtet. Umso erstaunlicher war unsere erste Station im Nilgiri-Gebirge. Die Stadt Ooty – der offizielle Name ist Udhagamandalam - nennt sich „plastic free zone“ und hat alles von Plastik-Tragetaschen bis -Trinkflaschen gebannt. Das Ergebnis lässt sich sehen – es liegt tatsächlich kaum Müll herum. Ein großes Plus für diese kühle Bergregion, die im Sommer ein beliebter Rückzugsort für hitzegeplagte Menschen aus den tieferliegenden Regionen ist. Das haben schon die britischen Kolonialherren entdeckt, die damals hier große Teeplantagen angelegt haben. Hier dürfen wir sogar auf durch private Kontakte für eine Nacht in einem alten britisch geprägten Club unterkommen. Inklusive Einladung zum Bridge im Kaminzimmer. Eine kurze, sehr interessante, aber eher befremdliche Berührung mit einer längst vergangenen Zeit.
Tempel unterschiedlichster Epochen
Nach abenteuerlichen Serpentinenwegen - begleitet von Affen (gelegentlich sollen hier Elefanten die Strasse überqueren) - geht es im Tiefland weiter. Madurai, Trichy und Thanjavur warten mit ihren eindrucksvollen und sehr unterschiedlichen Tempeln.
Schon an der ersten Station geraten wir völlig unvorbereitet in eine abendliche Zeremonie im Tempel, zu der wir zugelassen werden, obwohl wir so eindeutig nicht Hindus sind. Hier im Süden sieht man das offenbar nicht so eng – außer für das Allerheiligste, meist ein Schrein zu Ehren Shivas. Dort müssen wir draußen bleiben, was bei den langen Schlangen auch nicht unbedingt schlimm ist.
Die indischen Tempel sind selten ein Ort der Ruhe. Gesänge, Gebete, Lichterzeremonien, Prozessionen. Immer passiert etwas. Und Menschen überall. Viele Menschen. Hier wird immer wieder auch gegessen, geschlafen und gehandelt. Großfamilien in ihren feinsten Kleidern zelebrieren den besonderen Tag in einem der berühmteren Tempeln. Wir sehen so gut wie keine weiteren Ausländer und damit sind wir aber auch immer wieder eine Foto-Attraktion. Nicht nur, dass von uns Bilder gemacht wird (wir machen ja auch Bilder von diesen schön geschmückten Menschen), nein, man möchte gern ein Bild mit uns zusammen haben oder wir bekommen fremde Kinder in die Arme gedrückt für ein Foto. Schon ein seltsames Gefühl, die exotischen Fremden zu sein. Aber immer werden wir freundlich angesprochen und es ergibt sich nette Gespräche.
(Fortsetzung folgt)
Kommentare
Wim Lauwers sagt:
20.01.2023 um 12:46 Uhr
Danke Vera, ich bin voll dabei. <3 <3
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Vera Bartholomay sagt:
21.01.2023 um 05:10 Uhr
Das freut mich! Gruß, Vera
Brigitte Fischer-Ehrenreich sagt:
16.01.2023 um 10:58 Uhr
Ein wunderbarer Reisebericht, liebe Vera. Ich bewundere dein Talent durch den Reisebericht den Menschen die Landschaft, welche du gerade erkunden und erfühlen darfst, näher zu bringen.
Ich bin sehr auf die Fortsetzung deines Berichts gespannt.
Liebe Grüße Brigitte
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Vera Bartholomay sagt:
16.01.2023 um 11:28 Uhr
Danke für deine lieben Worte, Brigitte! Es ist mir so wichtig, diese Erlebnisse mit euch zu teilen. Gruß, Vera
Manuela sagt:
15.01.2023 um 11:17 Uhr
Liebe Vera,
danke für diesen spannenden Bericht. Vieles erinnert mich an Nepal, wo ich 2013 war. Und nach dem Lesen deines Beitrags freue ich mich umso mehr auf die bevorstehende Nepalreise im März 2023. So der Körper mitspielt, darf ich auf 4500 Meter ins Mardi Himal Camp laufen.
Weiterhin spannende Erfahrungen wünsche ich dir.
HerzLicht
Manuela
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Vera Bartholomay sagt:
16.01.2023 um 06:23 Uhr
Ach, wie spannend! Dann gute Reise für dich im März! Gruß, Vera
Michaela sagt:
13.01.2023 um 22:21 Uhr
Liebe Vera, was für eine interessante und spannende Reiseerfahrung. Ich warte schon auf die Fortsetzung. Liebe Grüße Michaela
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Vera Bartholomay sagt:
14.01.2023 um 04:10 Uhr
Danke! Ich schreibe weiter... Gruß, Vera
Melanie sagt:
13.01.2023 um 15:19 Uhr
Liebe Vera, ich genieße es, deinen Reisebericht zu lesen - und das, was du schreibst, versetzt mich augenblicklich in die Zeit meiner eigenen Indienreise im Jahr 2007. Eindrücke, Gefühle und vor allem Gerüche dieses eigentlich unbeschreiblichen Landes werden geweckt ... DANKE!!
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Vera Bartholomay sagt:
14.01.2023 um 04:11 Uhr
Ach, dann weißt du ja ganz genau, wovon ich rede - und wie schwer es ist, alles in Worte zu fassen. Gruß, Vera
Christine sagt:
13.01.2023 um 12:40 Uhr
Was für eine spannende Reise, liebe Vera. Ich freue mich auf deine Fortsetzung. Herzliche Grüße, Christine
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Vera Bartholomay sagt:
13.01.2023 um 13:19 Uhr
Es IST spannend. Ich melde mich bald mit weiteren Eindrücken! Vera