Eindrücke aus meiner Indien-Reise (2)
23.01.2023
Strom und Wasser
Aktuell schreibe ich wieder aus New Dehli. Die Smogwerte sind wieder einmal sehr hoch und neben mir brummt das Luftfiltergerät, das wenigstens in den Innenräumen für eine annehmbare Atemluft sorgt. Draußen hustet man viel – auch ohne Grippe oder gar Covid.
Soeben wurde frische Wasserkanister geliefert. Trinkwasser gibt es nicht einfach so aus dem Wasserhahn. Welch ein Luxus wir in Europa haben! Und wie wenig wir es in der Regel im Alltag schätzen. Hier muss man sich immer wieder die Frage stellen, ob wir noch genug Wasser im Haus haben.
Und dann verschwindet auch noch der Strom immer wieder. Im besten Fall nur für Minuten, heute Morgen für Stunden. Weshalb öfter auch ein Notstromaggregat vorhanden ist. Aber damit kann man sich besser arrangieren als mit schlechter Luft und Wasser.
Müll
Ich hatte in meinem ersten Bericht bereits erwähnt, dass Indien ein Müllproblem hat. Nichtsdestotrotz ist ein für uns befremdlicher Beruf entstanden, nämlich der eines Mülltrenners. Sprich, du bringst deinen Müll zum Müllmann und auf einer Pritsche hinter seinem Fahrrad wird der Müll anschließend mit bloßen Händen auseinandergenommen und in unterschiedliche Säcke verteilt. So wird alles Wiederverkäufliche weitergeleitet und der Müllmann verdient damit eine Kleinigkeit dazu. Für uns allerdings ein eher beschämender Augenblick zuzusehen, wie unser Müll durch fremde Hände wandert.
Und dennoch: Der für diese Straße zuständige Müllmann verrichtet seine Arbeit mit einer erstaunlich großen Würde. Uns wird gesagt, dass er hier sogar eine vergleichsweise gute Stelle hat, denn die Mittelklasse-Wohnviertel zahlen mehr für die Müllabfuhr als andere Viertel. Einmal im Monat kommt er dann auch persönlich zum Kassieren vorbei.
Verkehr
Die Städte sind vom ununterbrochenen Hupen der unterschiedlichsten Fahrzeuge geprägt. Extrem laut und auch lästig, bis man begreift, dass das Hupen nicht aggressiv gemeint ist, sondern lediglich auf das eigene Fahrzeug aufmerksam machen soll, manchmal als gutgemeinte Warnung. Sogar in den Fahrschulen wird einem beigebracht, die Hupe fleißig zu benutzen. Nun ja, besser und vor allem leiser wäre es allerdings ohne.
Der Verkehr in den Städten ist sagenhaft. Ein heilloses Durcheinander an Fahrrädern, Fußgängern, Kühen, Ziegen, Rikshas, Mofas, Autos und LKWs. Dabei gilt nur eine Regel: „There are no rules“ – Zitat einer unserer Riksha-Fahrer, als wir uns gerade mal wieder in Todesnähe wähnten und vorsichtig aufgemuckst haben. Dann wird auch mal die verkehrte Fahrrichtung gewählt oder mitten auf der Schnellstraße rückwärtsgefahren. Ampeln werden in seltenen Fällen beachtet (und in der Regel nur, wenn ein Polizist danebensteht) und Fußgänger können zusehen, wie sie heil über eine stark befahrene Straße kommen, denn Fußgängerwege oder gar -Ampeln gibt es selten. Also versammelt man sich am Straßenrand und geht rüber, wenn die Gruppe sich groß und stark genug fühlt, die Autos zu Halten zu bringen. Oder todesmutig genug ist. Dazu herrscht Links-Verkehr, was unser persönliches Überleben erschwert, denn wir schauen grundsätzlich in die falsche Richtung, bevor wir uns über die Straße wagen. Undenkbar für mich, hier selbst ein Fahrzeug zu lenken. Dabei entstehen aber erstaunlich wenige Unfälle. Offenbar ist alles so chaotisch, dass die Fahrer ununterbrochen aufpassen (müssen).
Einmal habe wir erlebt, dass mitten auf der asphaltierten Schnellstraße Körner zum Trocknen ausgebreitet wurden – dort ist es ja auch angenehm warm. Alle Fahrzeuge sind freundlich ausgewichen, als wäre es die normalste Sache der Welt. Alles eine Frage der Perspektive.
Mittlerweile traue ich mich, auch allein in dieser Millionenstadt unterwegs zu sein, mit Riksha-Fahrern über den Preis zu diskutieren, darauf vertrauend, dass sie auch verstanden haben, wo ich hinwill und mich nicht einfach im Nirgendwo rauslassen, denn so manche Viertel sind so ganz und gar nicht vertrauenserweckend. Etwas Bibbern ist deshalb immer dabei. Dazu kommt, dass die wenigsten Fahrer ein verständliches Englisch sprechen, oft sogar gar kein Englisch, und mein Hindi ist leider sozusagen nicht vorhanden. Hinzu kommt, dass New Delhi extrem unübersichtlich ist und ich immer noch so keine wirkliche Orientierung darin habe. Wenn ich mich dann aber zwischendrin verirre, hilft mir immer jemand. Sehr freundlich, geduldig und zugewandt. Überhaupt sind die vielen herzlichen Begegnungen mit fremden Menschen immer wieder berührend.
Lohri - Abschied vom Winter
Mitte Januar feiert man Lohri – ein Fest, das ursprünglich aus dem Punjab im Norden kommt und mit dem man den Winter verabschiedet. Man zündet dazu große Feuer an, tanzt und singt und natürlich gibt es wieder besonders feierliches Essen. Es wird jetzt auch zunehmend wärmer, auch wenn die Inder weiterhin dicke Jacken und Schals tragen. Dazu allerdings nur Flip-Flops tragen. Nur wir Nord-Europäer finden ein leichtes Jäckchen am Abend absolut ausreichend und würden Flip-Flops allerdings kaum ertragen. Dafür ist es doch noch zu frisch.
Großfamilien
Auf unserer Reise in Tamil Nadu im Süden Indiens waren wir natürlich auch viel in Hotels und haben die Besonderheiten der reisenden Menschen vor allem an den Feiertagen beobachten können. Dabei ist uns aufgefallen, wie oft die Menschen in Großfamilien unterwegs sind – 12-15 Personen sind keine Seltenheit. Die Kinder sind sehr ungezwungen dabei und dürfen auch in besseren Restaurants herumtoben und Lautstärke wird von Niemandem als Problem erachtet. Außerdem sind alle sympathisch locker und bequem gekleidet. Uns wird erzählt, dass man grundsätzlich gern in bequemen Freizeitkleidern zum Essen ausgeht. Essen soll genossen werden und das kann man nicht in engen und steifen Klamotten! Diese Sitte hätte ich gern auch in Europa…
Es berührt mich auch sehr, zu sehen, wie Jung und Alt dazugehören. Wie liebevoll und geduldig man mit allen Generationen umgeht und welch eine machtvolle Rolle die Frauen haben. Ja, ich weiß, das entspricht nicht unbedingt unsere Vorstellung von Inderinnen. Und dennoch erlebe ich hier Frauen, die zumindest in den Familien viel zu sagen haben und mit dieser Rolle sehr selbstbewusst umgehen. Auch wenn es gewiss nicht überall und erst recht nicht in allen Schichten so sein wird.
Ich beobachte auch eine Gemeinschaft unter den Frauen, um die ich sie manchmal fast beneide. Viel Nähe und Vertrautheit – auch eine ständige Bereitschaft, sich gegenseitig zu helfen. Man sitzt viel zusammen, redet und lacht. Natürlich machen das auch Männer, aber diese ganz besondere Nähe sehe ich persönlich noch mehr bei den Frauen.
Diese Woche geht es nach Mumbai, wo wir u.a. das weltberühmte „Lollapalooza“-Musikfestival erleben werden. Wann war ich zuletzt auf einem Festival? Aber diesmal gibt es einen besonderen Grund… Und dann weiter an die Küste. Von dort dann mehr…
(Fortsetzung folgt…)
(Hast du den ersten Teil meines Berichts aus Indien verpasst? Dann findest du ihn hier.)
Kategorien: Lebensfragen | Schlagworte: Indien, Inspirationen, Menschsein
Kommentare
Dr. Irmgard Wilhelm-Schaffer sagt:
24.01.2023 um 16:41 Uhr
Liebe Vera,
du ahnst nicht, welche Bedeutung deine Reisebeschreibung gerade jetzt für mich hat: auch ich breche am 12.2. nach Indien auf (erstmals), um eine 8 Tägige Reise zu verschiedenen Projekten der Hilfsorganisation Sabuj Shanga zu machen, u.a. unsere Partnerschule in Kolkata und landwirtschaftliche Projekte in den Sundarbans zu besuchen. Daher lese ich deine Berichte besonders aufmerksam und sie helfen mir, mich innerlich auf dieses so ganz andere Land vorzubereiten. Vielen Dank dafür
Irmgard
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Vera Bartholomay sagt:
25.01.2023 um 04:20 Uhr
Liebe Irmgard, das ist ja spannend! Ich hoffe, du wirst berichten? Ich möchte gern mehr darüber wissen. Gruß, Vera
Manuela sagt:
24.01.2023 um 11:15 Uhr
Vielen lieben Dank, dir liebe Vera, für diese wunderbaren Einblicke und deine Eindrücke. Es berührt mich sehr, wie tief wahrnehmend du diese Reise begehst und mit uns teilst.
Besonders die Gemeinschaft der Frauen und das Sagen in den Familien hat mich beeindruckt.
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Vera Bartholomay sagt:
24.01.2023 um 14:01 Uhr
Danke DIR für deine lieben Worte! Gruß, Vera